
Im April 2019 war ich im Rahmen einer Exkursion im Libanon.
Unsere Gruppe wohnte im Stadtteil Gemmayze, der jetzt so stark verwüstet ist. Von unserem Hotel aus erreichten wir das Goethe-Institut in wenigen Laufminuten. Dieses ist jetzt wegen der Schäden am Gebäude vorübergehend geschlossen. Auch das berühmte Sursock Museum konnten wir zu Fuß erreichen, wir waren im Museum der American University Beirut und natürlich auch in Downtown und am Hafen.
Wenn ich meine Fotos betrachte, frage ich mich, wie es dort wohl jetzt aussieht, wie schlimm die Schäden sind?
Und ich bin traurig über die vielen Toten, Verletzten und Obdachlosen. Es wäre sehr wünschenswert, wenn Hilfe schnell dort ankommt, wo sie dringend gebraucht wird. Wer die Versorgung der Bürger im Libanon unterstützen möchte: Die Leiterin des Orient-Instituts in Beirut, Frau Prof. Dr. Birgit Schäbler, hat darum gebeten, an Lebanese Red Cross zu spenden, http://www.redcross.org.lb/index.aspx?pageid=907
Beeindruckende Begegnungen
Da wir durch längere Forschungsaufenthalte unserer Dozenten im Bereich „Architektur, Kunst und Archäologie“ im Libanon die Möglichkeit hatten, Gespräche mit dort lebenden Menschen zu führen, bekamen wir Einblicke in die Strukturen. Schnell wurde klar, dass es für engagierte Menschen, die etwas für ihr Land erreichen wollen, es gut präsentieren wollen, sehr mühsam ist, sie oft gegen Mauern laufen, keine Genehmigungen erhalten, zäh und ausdauernd sein müssen, um Projekte voranzubringen und dabei über eine erhebliche Frustrationstoleranz verfügen müssen.
Wichtige Dokumente archivieren, Baudenkmäler schützen, für die Nachwelt erhalten, das ist größtenteils ehrenamtliche Privatsache und Kleinkrieg mit Behörden.
Wir haben sehr engagierte und reflektierte Menschen kennengelernt, die die Situation äußerst klar betrachtet haben und trotz aller Widrigkeiten maßvoll geblieben sind. Natürlich war bei dem einen oder anderen Wut über die Verhältnisse zu spüren, aber diese wurde konstruktiv in Kampfgeist, Kreativität und Improvisations-Intelligenz umgesetzt.
Ich war sehr beeindruckt von den Gesprächen, die wir in der kurzen Zeit von nur einer Woche führen durften. Teilweise wäre ein Durchatmen und Nachwirken lassen schön gewesen, aber das Programm war dicht und so haben wir sehr viele Eindrücke aus unterschiedlichen Bereichen mitnehmen können.
Politisches System
Neuwahlen werden keine großartigen Änderungen bringen, deshalb werden sie so schnell angeboten. Im Libanon herrscht seit Gründung der Libanesischen Republik im Jahr 1943 das Proporzsystem, das bedeutet, dass die verschiedenen Konfessionen anteilsmäßig im Parlament vertreten sind, damals im Verhältnis 6:5 (Christen:Muslime), entsprechend der jeweiligen Bevölkerungsanteile. In diesem Fall gingen von 55 Sitzen 30 Sitze an christliche Konfessionen und 25 an muslimische. Dabei muss der Präsident immer ein maronitischer Christ sein, der Premierminister ein sunnitischer Muslim und der Parlamentspräsident ein schiitischer Muslim.
Um an diesen Machtverhältnissen nicht zu rütteln, gab es seit 1932 keinen neuen Zensus mehr.
Da der Libanon zum Ziel für palästinensische Flüchtlinge wurde, wuchs der Anteil der Muslime, so dass nach dem Bürgerkrieg im Vertrag von Ta´if 1989 eine 5:5 Aufteilung beschlossen und die Befugnisse des (christlichen) Staatspräsidenten eingeschränkt wurden. Im Grunde wollte man damals das Proporzsystem bereits auflösen, dies konnte aber nicht durchgesetzt werden. Seit 1992 gibt es 128 Parlamentssitze, davon werden 64 Sitze von verschiedenen christlichen Kirchen besetzt und 64 von unterschiedlichen muslimischen Ausrichtungen.
Konfessionalismus als Hindernis für Entwicklung
Obwohl inzwischen (seit 2009) die Religionszugehörigkeit aus dem Pass der Libanesen gelöscht werden kann, sind immer noch einige Berufsmöglichkeiten und Posten an die Konfessionszugehörigkeit gebunden. Das belastet viele Libanesen. Auch ist es bei Wahlen so, dass man im Grunde immer die eigene Konfession wählt (Nachwirkungen des Bürgerkrieges), da diese Vertreter für die eigene Bevölkerungsgruppe etwas tun, wenn sie nicht nur dem eigenen Familienclan Privilegien bringen. Es geht also bei Entscheidungen meist um den Vorteil für die eigene Gruppe, nicht um die Entwicklung und Förderung des gesamten Staates.
Wenn also wirklich etwas geändert werden soll, muss diese Grundstruktur angegangen werden: Parlamentssitze und Posten dürfen nicht von der Konfessionszugehörigkeit abhängen. Neuwahlen würden das alte System stützen, das wollen die Libanesen nicht mehr länger, da sie die Folgen deutlich spüren und sich im Alltag fortwährend damit herumschlagen: Müllentsorgung, Stromversorgung, öffentlicher Stadtverkehr etc. grundlegende Dinge funktionieren nicht oder gibt es nicht, weil kein Interesse vorhanden ist, an einem Strang zu ziehen, um die Gesamtsituation zu verbessern. Man möchte weiterhin nur die eigene Gruppe bedienen, das Beste für sich selbst herausholen.
Diese Grundstruktur, die den Vorteil hat, dass es keine Staatsreligion gibt und Religionsfreiheit garantiert ist, hat sich insgesamt als wenig konstruktiv für die Entwicklung des Staates und der Gesellschaft erwiesen. Deshalb nützt es nichts, Symptome zu behandeln, es ist an der Zeit, das Grundproblem gezielt und klar anzugehen.
